Heinrich Schötteler und Johann Gervert pflegten eine innige Feindschaft. Johann war mit Heinrichs jüngerer Schwester verlobt, doch dem großen Bruder war der Schwager in spe nicht gut genug. Am Neujahrstag 1892 gerieten die beiden Streithähne mal wieder heftig aneinander, bis ein Dritter dazwischen ging.
Der Pfarrer Hermann Harrier hatte seiner Gemeinde gerade seinen Neujahrssegen gespendet, da gab es schon kein Halten mehr. In Scharen strömten die Mannsleute in die Wirtshäuser des Dorfes, um beim Frühschoppen auf das Jahr 1892 anzustoßen. Wenig später waren nicht nur die Kneipen voll, sondern auch etliche der Gäste. Auch in der Gaststätte des Hermann Sicking war ordentlich was los. Bier und Schnaps flossen in Strömen und die Stimmung näherte sich ihrem Höhepunkt. Was der Wirt jetzt am wenigsten brauchen konnte, waren Gäste, die Ärger machten. Aber er kannte seine Pappenheimer nur zu gut.

Der Müller Johann Gervert und der Bahnarbeiter Heinrich Schötteler hatten schon etliche Schnäpse intus. Daher war es wie so oft nur eine Frage der Zeit, bis es zwischen den beiden 25-jährigen Streithähnen zu ersten Wortgefechten kam. Kurz darauf folgten schon Handgreiflichkeiten, die im Nu in eine handfeste Keilerei ausarteten. Johann bekam rasch Oberwasser und es gelang ihm, seinem Rivalen ein paar wirkungsvolle Schläge zu versetzen, so dass dieser zu Boden ging. In dieser misslichen Lage erhielt Heinrich obendrein von Johann noch ein paar Tritte verpasst. Dann ging der Wirt Sicking dazwischen. Er packte sich den Müller wie ein Mehlsack und beförderte ihn kurzerhand vor die Tür.
„Heute wird noch etwas passieren“
Der geschlagene Heinrich erhob sich und bebte vor Wut. Diese Runde hatte anscheinend Johann gewonnen. Aber fertig war er mit seinem Widersacher noch lange nicht. Zum Wirt meinte er noch. „Heute Abend wird unter meinen Händen noch etwas passieren“. Dann nahm er seinen Rock und seine Mütze und verließ das Lokal. Die übrigen Anwesenden konnten nur noch mit dem Kopf schütteln. Johann und Heinrich kannten sich schon von Kindesbeinen an. Sie waren mit vier Wochen Unterschied in Großreken geboren und hatten zusammen die Schulbank gedrückt. Aber niemand im Dorf wusste, wo diese ausgeprägte Feindschaft der beiden herrührte.

Heinrich wuchs in der Middelbauerschaft auf, die sich östlich des Dorfes befand. Hier lag in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hof Weßling der kleine Kotten mit der Nr. 9a, Köhne genannt. Das Gehöft wurde seit jeher an Tagelöhnern verpachtet, die ihre Pacht in Form von Arbeitsleistungen für den Bauern Weßling entrichteten und im Nebenerwerb auf ein paar kleine Parzellen für den Eigenbedarf Ackerbau betrieben. Schon Heinrichs Vater, Hermann Schötteler, wurde auf diesen kleinen Kotten geboren. Das Leben war zu dieser Zeit mühsam und entbehrungsreich. Den kargen Sandböden in Reken waren nur sehr geringe Erträge abzuringen. In Heimarbeit als Weber wurde noch etwas hinzuverdient. Und dann war da noch die Arbeit auf dem Hof Weßling.
Moderne Zeiten brachen an
Heinrich war der jüngste, und ab 1879 auch der einzige verbliebene Sohn seiner Eltern. Lange schien es, dass es auch für Heinrich keine andere Möglichkeit gab, also sich wie sein Vater als Aufwöhner zu verdingen. Doch mit der Eisenbahn änderte sich alles.
Heinrich Schötteler, genannt Köhne, wurde am 10.09.1866 in Großreken geboren. Seine Eltern waren der Tagelöhner Hermann Schötteler (*01.10.1825 in Großreken) und Anna Margaretha Schröer (*18.02.1826 in Großreken). Sie heirateten am 22.05.1855 in Großreken. Heinrich Schötteler hatte noch fünf Geschwister:
- Anna Elisabeth, *02.02.1856 +27.11.1918
- Johann Heinrich, *23.09.1857 +19.08.1879
- Maria Christina, *23.01.1860 +20.01.1903
- Johann Bernard, *03.11.1864 +20.10.1865
- Anna Maria Christina, *05.11.1869 +24.12.1936
Mit Erteilung der Konzession für den Bau und den Betrieb der Eisenbahnstrecke Duisburg – Quakenbrück im Jahre 1873 an die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten. Viele Landarbeiter fanden zunächst auf den Baustellen der Bahnstrecke Arbeit. Richtig los ging es aber erst nach der Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecke im Jahre 1879. Das rasch wachsende Ruhrgebiet war damit in erreichbarer Nähe gerückt.
Aufbrausende Gemüter
Auch Heinrich fand als Eisenbahnarbeiter eine Anstellung, wodurch ihm die Tristesse des Weberlebens seines Vaters erspart blieb. Das Verhältnis zu seinem Vater war ohnehin nicht das Beste und häufig sehr angespannt. Beide Männer – der Vater wie der Sohn – waren aufbrausende Gemüter, die zu Jähzorn neigten, der auch hin und wieder in Gewalt ausartete. Wenn dann noch Alkohol ins Spiel kam, dann wussten beide manchmal nicht mehr, was sie taten. So ließ sich Vater Herman Schötteler einst im Suff sogar dazu hinreißen, seinen eigenen Vater mit einem Messer zu bedrohen.
Sohn Heinrich brache es seinerseits einmal zu einer Vorstrafe wegen Hausfriedensbruch, denn auch mit seinen anderen Mitmenschen ging er alles andere als zimperlich um. Diesen zweifelhaften Charakterzug bekam auch sein Rivale Johann Gervert immer wieder zu spüren. Als sich Johann jedoch anschickte, mit Heinrichs jüngerer Schwester Anna ein Verlöbnis einzugehen, war das Maß voll. Seine beiden älteren Schwestern waren bereits gut unter die Haube gekommen. Dass jetzt so ein dahergelaufener Müller wie Johann seine Schwester heiraten wollte, dass konnte er nicht gutheißen. Schließlich hatte er als einzig verbliebener Bruder darauf zu achten, auf wen sich seine kleine Schwester da einließ. Ein Müller, und dazu noch Johann Gervert, das war nun wirklich das Letzte.
Johann Gervert wurde am 12.08.1866 in Großreken geboren. Seine Eltern waren der Müller Bernd Gervert (*+11.05.1920 in Ahaus) und Theresia Schroten (*Billerbeck). Sie heirateten am 20.11.1860 in Billerbeck. Johann Gervert hatte noch fünf Geschwister:
- Anna Elisabeth *27.02.1861
- Maria Anna Theresia *28.12.1862
- Johann Bernard *29.09.1864
- Bernard Henrich *22.04.1868
- Elisabeth *24.02.1870
- Johann Ludgerus Theodorus *08.02.1872
- Clemens August Bernard *03.03.1874
Nachdem Heinrich nach der Prügelei bei Sicking das Lokal verlassen hatte, trieb er sich mit mächtig viel Wut im Bauch den ganzen Neujahrstag über in den anderen Kneipen des Dorfes herum. Mit reichlich Schnaps versuchte er, seinen Ärger hinunterzuspülen, bewirkte damit aber das Gegenteil. Gegen Abend machte er sich schließlich stark angetrunken und immer noch voll des Zorns auf den Heimweg, nicht ohne fortwährend den Müller Johann mit Flüchen zu belegen.
Man sieht sich immer zweimal
Zuhause angekommen trat er in die Stube. Dort stand Heinrich dann plötzlich niemandem Geringeren gegenüber als Johann. Der Müller hatte sich nach seinem Rauswurf aus der Kneipe zu seiner Braut begeben und hatte sich schon den ganzen Nachmittag im Haus der Schöttelers aufgehalten. Als Johann seinen Schwager in spe erblickte, flüchtete dieser sofort in das nebenanliegende Schlafzimmer. Heinrich wollte hinterher wurde aber aufgehalten. Sein Vater hatte sich ihm in den Weg gestellt und hinderte ihn daran, das Schlafzimmer zu betreten.

Johann öffnete dann das Schlafzimmerfenster und stieg ins Freie. Vor dem Haus wurde er dann Zeuge, wie im Haus Vater und Sohn in einen heftigen Streit gerieten. Auf Worte folgten Taten. Es kam zu Handgreiflichkeiten, infolgedessen schließlich der Alte auf den Jungen lag. Heinrich konnte sich davon befreien, sprang auf und ergriff einen Stuhl. Sein Vater ging erneut dazwischen und konnte gerade noch verhindern, dass sein Sohn den Stuhl auf seine Mutter schleuderte. Drauf hin ergriff Heinrich ein an der Wand hängendes Schlachtermesser, stürzte auf seinen an der Schlafzimmertür stehenden Vater zu und rammte ihm das Messer bis ans Heft in die Brust. Der Alte sank auf den Stuhl und war auf der Stelle tot.
„Mien Vader is dood, mien Vader is dood!“ schrie Heinrichs Schwester und lief panisch aus dem Haus. Währendessen hielt die Mutter ihren toten, auf dem Stuhl sitzenden Mann umschlungen und rief fassungslos: „Mien Gott, Hermann, büss dou daut, wie is datt moeglich?“ Heinrich Schötteler lag am Boden, sprang plötzlich auf, ergriff ein Jagdgewehr und hielt sich den Lauf unter sein Kinn, bereit sich selbst zu richten. Seine Mutter rief: „Heinrich, do et doch nich, do et mienetwegen nicht!“, was ihn davon abhielt, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Stattdessen steckte die Mutter ihrem Sohn noch ein wenig Geld zu, wünschte ihm Lebewohl und am frühen Morgen des 2. Januar 1892 verließ er das Haus.
Flucht über die Grenze
Als Eisenbahner wusste er, dass an diesem Samstag noch ein Zug von Borken nach Winterswijk in die Niederlande fuhr. Auf diesem Weg entkam er den Preußischen Polizeibehörden, die ihn nur knapp verfehlten. Bereits am Sonntag erließen die Behörden einen Steckbrief, der in der darauffolgenden Woche in allen Zeitungen der Region publik gemacht wurde. Am Dienstag, den 5. Januar 1892, fand im Beisein der Gerichtskommission die Obduktion der Leiche statt. Dabei wurde festgestellt, dass Lunge und Herz durchstochen wurden und den raschen Tod herbeiführten. Zwei Tage später, am 7. Januar, wurde Hermann Schötteler unter großer Beteiligung der Rekener Bevölkerung beerdigt.

Auf niederländischem Gebiet gelang es Heinrich Schötteler, sich bis nach Rotterdam durchzuschlagen, mit der Absicht, sich dort ein Ticket für eine Amerika Passage zu kaufen. Kurz nachdem er sich sein Schiffsbillett gekauft hatte, wurde er von den niederländischen Gendarmen verhaftet und in Hengelo in Auslieferungshaft genommen.
Am Morgen des 15. Februar 1892 wurde Heinrich Schötteler von zwei niederländischen Gendarmen am Grenzübergang in Gronau den Preußischen Behörden ausgeliefert. Die Nachricht von der Auslieferung verbreitete sich in Windeseile, so dass sich eine große Menge Schaulustiger im Gronauer Bahnhof einfand, um einen Blick auf den „Vatermörder“ zu erhaschen. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt im Gronauer Gefängnis ging es von dort aus gegen Mittag weiter nach Münster ins Gerichtsgefängnis, wo er auf seinen Prozess warten musste.
Der Vatermörder vor dem Schwurgericht
Am Dienstag, den 05.04.1892, war es dann so weit. Heinrich musste sich vor dem Schwurgericht in Münster verantworten. In seiner Vernehmung gab er an, sich an keine Einzelheiten seiner Tat erinnern zu können. Er hätte sich in hochgradiger Aufregung befunden, und eigentlich die Absicht gehegt, den Müller an den Kragen zu gehen. Seine Mutter und seine Schwestern trugen in der Verhandlung nichts zur Klärung des Tatherganges bei, weil sie allesamt von Ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machten. So blieb nur noch Johanns Aussage, der das Geschehen von draußen beobachtet hatte.
Sodann wurden die Obduktionsergebnisse von den ärztlichen Gutachtern vorgetragen. Das Gutachten konnte nicht die Möglichkeit ausschließen, dass der Tote in das Messer gefallen sei. Allerdings sprach alles dafür, dass das Messer mit einem heftigen Stoß von unten nach oben geführt worden sei.
Die Staatsanwaltschaft plädierte auf Totschlag unter Ausschluss mildernder Umstände und forderte daher fünf Jahre Zuchthaus für Heinrich. Die Verteidigung hingegen versuchte die Tat als einen eskalierten Streit zweier jähzorniger Menschen darzustellen, bei dem es aus Fahrlässigkeit zu einem tragischen Ende gekommen sei. Die Geschworenen konnten sich Letzterem nicht anschließen und erkannten Heinrich für Schuldig der vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge. Das Gericht übertraf in seiner Entscheidung schließlich sogar die Forderung der Staatsanwaltschaft und Verurteilte Heinrich zu sechs Jahren Zuchthaus, womit es den besonderen Umstand berücksichtigte, dass er seinen eigenen Vater getötet hat.
Heinrich sah seine Großrekener Heimat nie wieder. Er starb am 3. Mai 1894 im Münsteraner Gefängnis an der Gartenstraße. Seine Mutter Anna Margaretha Schröer überlebte ihn noch 20 Jahre. Sie starb im Alter von 88 Jahren am 04.11.1914 in Reken.
Ein Ziel konnte Heinrich jedoch erreichen: Seine jüngste Schwester Anna hat den Müller Johann Gervert nie geheiratet. Er ehelichte stattdessen am 22.10.1894 in Marl Maria Bernardina Lackmann aus Altendorf-Ulfkotte. Seine ehemalige Verlobte Anna Schötteler heiratete ihrerseits am 25.02.1897 Heinrich Lütke gnt. Wewer aus Nordvelen. Sein Beruf: Müller.
© H. Krasenbrink
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Quellen:
Münsterischer Anzeiger, 41 (05/04/1892) 92
Westfälischer Merkur, 71 (05/04/1892) 96
Münsterischer Anzeiger, 41 (05/01/1892) 4
Münsterischer Anzeiger, 41 (04/01/1892) 3
Münsterischer Anzeiger, 41 (07/01/1892) 5
Ahauser Kreiszeitung, 12 (17/02/1892) 14
Kölnische Zeitung, (07/04/1892) 280/281/282
Münsterischer Anzeiger, 42 (10/08/1893) 213
Venloosch Weekblad, 16.01.1892
Venloosch Weekblad, 09.04.1892
Kirchenbuch Großreken, St.-Heinrich, KB015/Seite 7
Kirchenbuch Großreken, St.-Heinrich, KB005_1/Seite 64
Kirchenbuch Großreken, St.-Heinrich KB008/Seite 24
Kirchenbuch Großreken, St.-Heinrich KB011/Seite 11
Kirchenbuch Großreken, St.-Heinrich KB009/Seite 81
Kirchenbuch Großreken, St.-Heinrich KB015/Seite 96
Abbildungen:
Abbildung 1: aus „Reken in vergangenen Tagen“, Hrg: Heimatverein Reken
Abbildung 2: Messtischblatt 1905
Abbildung 3: aus „Reken in vergangenen Tagen“, Hrg: Heimatverein Reken
Abbildung 4: Münsterischer Anzeiger, 41 (05/01/1892) 4
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