Gerhard Rademacher aus der Borkener Bauerschaft Hoxfeld strebte nach sozialem Aufstieg und Besitz. In seiner Geltungssucht waren ihm alle Mittel recht, möglichst ohne sich selbst die Hände zu beschmutzen. Auch als ihm sein 18 Jahre älterer Schwiegersohn im Weg stand, ließ er andere die Drecksarbeit verrichten.
Vorsichtig trugen die Männer den alten Wenzel Sommers in sein Haus. Aber so behutsam sie dabei auch vorgingen, die fürchterlichen Schmerzen konnten sie ihm nicht ersparen. Zu schwer waren die Verletzungen. Nachdem seine Nachbarn aus der Bauernschaft Rhedebrügge in den frühen Morgenstunden des 4. September 1855 einige Zeit nach dem vermissten Bauern gesucht hatten, fanden sie ihn in der Homer Heide auf einem Feldweg. Er war grauenhaft zugerichtet. Der Kopf war blutüberströmt, die Augen zugeschwollen und seine deformierten Gliedmaßen deuteten auf unzählige Knochenbrüche hin. Der Alte stöhnte abermals laut auf, als sie ihn auf sein Bett ablegten.
Der herbeigerufene Arzt begann, sich um den Schwerverletzen zu kümmern. Viel konnte er jedoch nicht mehr verrichten, außer genau zuzuhören, was der 73-jährige in seinen letzten Zügen noch mitzuteilen hatte. Zwei unbekannte Männer hätten ihn am Vorabend in der Homer Heide hinterrücks überfallen und ihn dabei so bestialisch zugerichtet. Kurze Zeit später, die Uhr schlug gerade 9 Uhr, erlöste der Tod Wenzel Sommers von seinen unsäglichen Schmerzen. Zurück ließ er eine Frau, die fast noch ein Kind war.
Vom Kötter zum Ortsvorsteher
18 Jahre zuvor, am 24.01.1837 wurde in der St.-Remigius-Kirchen in Borken ein Neugeborenes getauft auf den Namen Charlotte Elisabeth Adolphine. Mit dieser ungewöhnlichen Namenswahl für seine jüngste Tochter setzte der stolze Vater Gerhard Heinrich Rademacher ein Ausrufezeichen. Namenspatronin und Taufpatin war nämlich keine Geringere als Charlotte Elisabeth Adolphine von Grüter-Morien, die Gemahlin des Borkener Landrates Karl von Basse. Der Verwaltungsjurist Karl von Basse gehörte in Borken zur kleinen bürgerlichen Oberschicht. Von 1816 bis 1847 war er Landrat des Kreises Borken, wurde 1840 in den preußischen Adelsstand erhoben und residierte standesgemäß auf Haus Pröbsting in Hoxfeld, wo er 1868 auch starb.
Rademacher war dagegen nur ein einfacher Kötter in Hoxfeld und von derartig erlauchten Kreisen selbstverständlich meilenweit entfernt. Dennoch stand er als Bediensteter des Landrates von Basse der Upper-Class näher als die meisten seiner Standesgenossen. Als sogenannter Ortsvorsteher übte er in und um Borken eine wichtige Verwaltungsfunktion aus als Bindeglied zwischen der Bürokratie und der einfachen Bevölkerung. Um diesem sozialen Aufstieg Ausdruck zu verleihen, hielt er es für eine gute Idee, der Gattin seines Dienstherrn die Patenschaft seiner Tochter anzutragen.
Dass die edle Dame diesem Wunsch nicht einmal persönlich nachkam, sondern sich bei der Taufe von einer Bediensteten vertreten ließ, tat Rademachers Ansinnen keinen Abbruch und war allenfalls ein Schönheitsfehler. Auch so bekam der Ortsvorsteher etwas ab vom Glanze seines Dienstherrn, denn mit dem Namen Charlotte Elisabeth Adophine war seine Tochter der lebende Beweis dafür, dass er ein Günstling des Landrates war – und darauf kam es schließlich an.
Rademacher stammte aus der Bauerschaft Westenborken und heiratete im Alter von 26 Jahren Anna Gertrud Steggemann aus Hoxfeld, zu der er auf den Kotten zog. Kurz darauf wurde der älteste Sohn Wilhelm geboren. Der weitere Nachwuchs kam jedoch nur spärlich. 1831 folgte der Sohn Hermann und 1837 schließlich die besagte Charlotte Elisabeth Adolphine. Gerhard Rademachers Position als Ortsvorsteher war einflußreich und vermutlich mit allerlei Privilegien verbunden. Dem Sohn Wilhelm bot sich so die Möglichkeit, eine Laufbahn als Lehrer einzuschlagen, zunächst in Marbeck und später in Sendenhorst. Auch Hermann Rademacher gab sich nicht mit dem Leben eines einfachen Kötters zufrieden, sondern wurde später immerhin Gastwirt in der Wertherbrucher Dorfschenke.
Gerhard Heinrich Rademacher wurde am 20.05.1800 in Westenborken geboren. Seine Eltern waren die Eheleute Johann Henrich Rademacher und Maria Gertrud Schwane. Am 07.11.1826 heiratete er die drei Jahre ältere Anna Gertrud Steggemann aus Hoxfeld. Die Eheleute hatten drei Kinder:
- Charlotte Elisabeth Adophine ✶23.01.1837
- Johann Wilhelm ✶01.11.1827
- Johann Hermann ✶22.11.1831
Die Karriere des Emporkömmlings geriet ins Stocken
Vor allem aber war es Rademacher selbst, der nach Anerkennung und sozialem Aufstieg strebte. Gegen Ende der 1840er Jahre veränderten sich seine Perspektiven jedoch grundlegend. Landrat von Basse verlor 1847 das Vertrauen des Regierungspräsidenten von Münster und wurde in den einstweiligen Ruhestand gedrängt. Etwa zur gleichen Zeit verlor auch Rademacher seinen lukrativen Posten. Die näheren Umstände sind zwar ungewiss, allerdings deutet vieles darauf hin, dass es keine gütliche Trennung war.
Als kurz nach Rademachers Entlassung ein Schuss auf den Landrat von Basse abgegeben worden war, der diesen nur knapp verfehlte, geriet der Ortsvorsteher a. D. in Tatverdacht. Das Attentat konnte ihm jedoch nie nachgewiesen werden, allerdings hielt sich lange das Gerücht, dass er seine Finger im Spiel hatte. Rademacher musste also umsatteln, wollte er nicht wieder als einfacher Kötter enden. Dafür musste einmal mehr seine Tochter Charlotte Elisabeth Adolphine herhalten.
Bauer sucht Frau
In der südlich von Hoxfeld gelegenen benachbarten Bauerschaft Rhedebrügge befand sich der Hof Albers mit der Hausnummer 28. Der Albershof war ein stattliches Gut mit allem, was dazu gehörte: umfangreiche Ländereien, eine üppige Viehherde und mehrere Pferde. Insgesamt war der Hof mehr als zehnmal so groß, wie der kleine Kotten des Rademacher. Was dem Hof allerdings fehlte, war ein junger Nachfolger. Besitzer des Hofes war der alte Wenzel Sommers, der mit zwei Schwestern um die Mitte des 19. Jahrhunderts den Hof bewirtschaftete. Erst im Alter von 47 Jahren hatte er die 20 Jahre jüngere Anna Katharina Riethe aus Rhedebrügge geheiratet. Aber schon ein Jahr darauf starb die junge Frau ohne Kinder zu hinterlassen. Eine neue Ehe ging Sommers danach nicht mehr ein.
Johann Wenzel Sommers wurde am 14.01.1782 in Rhedebrügge geboren. Seine Eltern waren die Eheleute Gerhard Remigius Sommers und Margerethe Albers. Am 20.10.1829 heiratete er die 20 Jahre jüngere Anna Katharina Riethe aus Rhedebrügge. Wenzel Sommers hatte noch sieben Geschwister
- Anna Margaretha, ✶29.08.1769
- Bernardus Henricus, ✶17.07.1771
- Johanna, ✶17.12.1776
- Johannes Henricus, ✶04.04.1784
- Anna Catharina, ✶13.05.1785
- Gesina, ✶08.09.1786
- Johanna Catharina Elisabeth, ✶06.05.1790 +08.08.1858
Die Jahre verstrichen und bis Anfang 1852 bewirtschaftete Sommers allein den Albershof. Er war zwar für sein Alter noch recht rüstig, spürte aber immer mehr, dass seine Kräfte nachließen und er auf dem Hof Hilfe brauchte. Auch Rademacher war nicht entgangen, dass es auf dem Hof Albers eine Vakanz gab und schickte daher seine inzwischen 15-jährige Tochter Charlotte Elisabeth Adolphine als Magd auf den Hof. Die junge Frau hinterließ offenbar einen überzeugenden Eindruck auf den Alten – nicht nur als Arbeitskraft, sondern auch als junge Frau. Es dauerte daher nicht lange bis sich Sommers an Rademacher wandte und um die Hand seiner Tochter bat. Damit war Rademacher fast am Ziel. Was jetzt noch fehlte, war die Regelung der Details.
Coup oder Kuhhandel?
Aber schon am 27.04.1852 schlossen die Beteiligten einen Vertrag. In diesem wurde dem alten Sommers die 15-jährige Charlotte Elisabeth Adolphine als Frau versprochen. Sollte die junge Frau den Alten überleben, dann sollte sie den Albershof erben. Sollte allerdings der Alte seine Frau überleben, dann sollte das Erbe an Gerhard Rademacher fallen. Der Vertrag regelte außerdem, dass Rademacher sein eigenes Hab und Gut mit in den Hof einbringen und er anschließend mit seiner Familie auf den Albershof ziehen sollte. Sommers ließ sich jedoch auch vertraglich zusichern, dass er weiterhin auf dem Hof das letzte Wort behalten sollte. Im Streitfall sollte Rademacher das Nachsehen haben und hätte wieder vom Albershof abziehen müssen, nicht jedoch ohne dafür angemessen entschädigt zu werden.
Was heutzutage eine schwere Straftat gegen die persönliche Freiheit darstellt, war um die Mitte des 19. Jahrhunderts weder ungewöhnlich noch sittenwidrig. Vielmehr waren derartige Verträge eine pragmatische Lösung zum Vorteil aller Beteiligten. Daher zog schon kurz nach Vertragsschluss Rademacher mit Kind und Kegel auf den Albershof. Die weitere Vertragserfüllung folgte zwei Jahre später am 30.05.1854. An diesem Tag fand die Hochzeit zwischen dem inzwischen 72-jährigen Sommers und der 17-jährigen Charlotte Elisabeth Adolphine statt.
Es dauerte jedoch nicht lange bis die ersten Unstimmigkeiten auftraten. So war einerseits die Beziehung zwischen der jungen Ehefrau und ihrem mehr als viermal so altem Gemahl nicht frei von Spannungen. Andererseits hatte Rademacher keinesfalls die Absicht, sich auf Dauer dem Regime des alten Sommers unterzuordnen. Das entsprach weder seinem Rang als Ortsvorsteher a. D. noch seinen Ambitionen. Sommer erfreute sich jedoch weiterhin bester Gesundheit und nichts deutete darauf hin, dass sich dies ändern sollte.
Drei sind einer zu viel
In dieser Situation wurde für Rademacher klar, dass es an Zeit war, dem Schicksal auf die Sprünge zu helfen. Möglicherweise verfolgte er aber auch schon von Beginn den Plan, den Alten zu beseitigen oder ihm mindestens eine Verletzung beizubringen, infolgedessen er das Zepter übergeben müsste. Der 18 Jahre jüngere Schwiegervater hatte allerdings nicht die Absicht, sich dabei selbst die Hände zu beschmutzen. Aber nicht zuletzt aufgrund seines früheren Amtes war er in Borken gut vernetzt und hatte Zugang zu allerlei zwielichtigen Kreisen. Hier begab er sich auf die Suche nach einem willigen Gehilfen, den er damit beauftragen wollte, Sommers die Augen auszustechen oder ihn mit Schwefelsäure des Augenlichtes zu berauben.
Sein erster Kontaktmann war ein gewisser Hüning, der jedoch nichts mit der Sache zu tun haben wollte. Also wandte er sich als nächstes an den Borkener Schuster Dahlhoff, dem er zur Belohnung eine ordentliche Geldsumme bot. Aber auch in Dahlhoff hatte sich Rademacher geirrt. Der Schuster war sicherlich für Vieles zu haben, aber eine derartig scheußliche Sache führte entschieden zu weit.
Derweilen entwickelte sich das Verhältnis zwischen Sommers und Rademacher weiter zum Schlechten. Letzterer mischte sich nach Auffassung des Altbauern immer wieder in wirtschaftliche Dinge ein, die ihm laut Vertrag nichts angingen. Da sich die Unstimmigkeiten nicht ausräumen ließen sah sich der Alte gezwungen, sich im Sommer 1855 an den Bocholter Rechtsanwalt Arnold Rump zu wenden. Im Ergebnis schickte der Anwalt ein Schreiben an Rademacher mit der Aufforderung, den Albershof zu verlassen. Mit diesem Ultimatum war das Tischtuch der beiden Männer endgültig zerschnitten. Rademacher sah seine Felle davon schwimmen. Jetzt war Eile geboten.
Willige Helfer aus der Borkener Unterwelt
Dem Borkener Tagelöhner Joseph Bielefeld wurde nachgesagt, dass er zu allerlei Schandtaten fähig wäre. Also wandte Rademacher sich an ihn, erhielt aber erneut eine Abfuhr. Bielefeld kannte aber einen anderen üblen Burschen, der den Auftrag übernehmen könnte. Dies war der Schuster Johann Friedrich Ratering. Früh verwaist geriet Ratering schon als Jüngling auf die schiefe Bahn. Im Jahre 1831 wurde Ratering erstmals im Alter von 17 Jahren steckbrieflich gesucht, aber das war nur der Anfang einer langjährigen Gaunerkarriere. 1838 heiratete er die ebenfalls aus Borken stammende Franziska Müggenburg, mit der er sechs Kinder hatte. Aber auch seine Rolle als Ernährer einer Großfamilie hielt ihn nicht davon ab, immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte er es mehr als zwanzigmal mit der Polizei zu tun gehabt und konnte ein umfangreiches Vorstrafenregister vorweisen. Wer sonst, wenn nicht Ratering, käme dafür in Frage, Sommers aus dem Weg zu räumen?

Also stellte der Mittelsmann Bielefeld im Auftrag von Rademacher den Kontakt her zu Ratering. In Aussicht auf schnell verdientes Geld zeigte sich Ratering interessiert an der Sache, gab dem Bielefeld aber mit auf dem Weg, dass Rademacher die weiteren Details schon mit ihm selbst besprechen müsste. So kam es zu einer persönlichen Begegenung zwischen Rademacher und Ratering, in der man sich schnell einig wurde. Der Auftrag an Ratering lautete danach, dem alten Sommers derartig die Augen zu verletzten oder die Knochen zu zertrümmern, dass dieser nicht mehr in der Lage sei, die Geschicke auf dem Albershof zu bestimmen. Für die Ausführung dieser Tat sollte Ratering von Rademacher 10 Taler erhalten.

Zur weiteren Planung und um sich ein Bild von den örtlichen Gegebenheiten zu verschaffen, trafen sich Rademacher und Ratering im August 1855 auf dem Albershof. Rademacher führte den Schuster über verschlungene Feldwege in das südlich des Albershofes in Richtung Homer gelegene Heideland. Hier ging Sommers zu dieser Zeit häufig seiner Arbeit nach und die Abgeschiedenheit dieser Fluren eignete sich bestens dazu, den Alten aufzulauern. Ratering hatte sich noch die Mithilfe eines Komplizen gesichert, des Borkener Webers Fridrich Peter Richters.
Der 21-jährige Richters hatte erst vor kurzem seinen Dienst im 13. Infanterie-Regiment der Preußischen Armee beendet und sah sich bestens vorbereitet, an der Ausführung des Auftrages mitzuwirken. Dafür wurde ihm von Ratering die Hälfte des vereinbarten Lohnes versprochen. Es wurde schließlich vereinbart, dass zum Zeichen der erfolgreich vollzogenen Tat die beiden Schergen zum Albershof kommen und sich dort eine Pfeife anzünden sollten.
Fridrich Peter Richters wurde am 30.09.1833 in Borken geboren. Er war Sohn des Borkener Drechslers Franz Josef Richters und seiner Frau Clara Agnes Richters aus Velen. Peter Richters hatte noch acht Geschwister:
- Gertrud ✶1831
- N.N. ✶1830
- Johanna Elisabeth ✶10.1827
- Maria Anna Sophia ✶02.1825
- Anna Josepha ✶08.1822
- Johanna Josepha ✶02.1820
- Bernardy ✶08.1817
- Johann Henricus 10.1814 (unehelich)
Auch harte Hunde ziehen manchmal ihren Schwanz ein
Am Abend des 1. September 1855 – es war ein Samstag – begaben sich Ratering und Richters in die Homer Heide zu der Stelle, wo sie Sommers vermuteten. Aus einem Gebüsch schnitt sich jeder von ihnen einen starken Knüppel. Dann warteten sie versteckt am Wegrand, um den Alten abzupassen. Kurz darauf erblickten sie Sommers auf seinem Heimweg. Sie erkannten aber auch deutlich, dass der Alte sein Jagdgewehr geschultert hatte. War es geladen? Könnte Sommers sich damit zur Wehr setzen? Die beiden Schergen bekamen weiche Knie und das Risiko erschien ihnen so groß, dass sie von ihrem Plan abließen und in ihrem Versteck verharrten. Sie ließen Sommers passieren und folgten ihm unerkannt in sicherer Entfernung bis zu seinem Hof.
Am Hof trafen sie auf Rademacher, der aus seiner Verärgerung über so viel Feigheit keinen Hehl machte. Sein Ärger wurde noch größer, als Ratering und Richters die Dreistigkeit aufbrachten, für den vergeblichen Weg einen Teil des vereinbarten Lohnes zu fordern. Aber Rademacher hatte keine andere Wahl. Er sagte Ratering und Richters eine Anzahlung zu und nahm ihnen im Gegenzug das Versprechen ab, dass die beiden bei nächster Gelegenheit einen neuen Versuch unternehmen würden, den Plan auszuführen.
Am darauffolgenden Morgen traf Rademacher nach seinem sonntäglichen Kirchgang in Borken die beiden wieder, um ihnen 15 Silbergroschen auszuzahlen. Gleichzeitig wurde vereinbart, dass schon am nächsten Tag das Versprechen eingelöst werden sollte. Ratering und Richters sollten sich am Montagabend zum Albershof begeben. Als Zeichen dafür, dass der alte Bauer auch tatsächlich in der Heide arbeitete, wollte Rademacher einen Zweig auf dem Weg legen. Also machten sich am Abend des 3. Septembers die beiden wieder auf nach Rhedebrügge. Auf dem Weg zum Albershof sahen sie den vereinbarten Zweig liegen. Sommers war also in der Heide bei der Arbeit. Sie versteckten sich wieder in dem Gebüsch am Weg, wo sie ihre beiden Knüppel noch vorfanden.
Gewaltorgie in der Homer Heide
Es war schon 20 Uhr, als Sommers sich der Stelle näherte. Als er an dem Versteck vorüber ging, stürzten die beiden heraus. Ratering rief: „Du sollst einen alten Züchtling kennenlernen, Deine Uhr her“, worauf er dem Alten einen ersten heftigen Schlag gegen die Schienbeine versetzte. Sommers war aber ein zäher Bursche und setzte sich zur Wehr. Er packte Ratering und schleuderte ihn gar zu Boden. Doch dann kam ihm Richters zur Hilfe, der mit seinem Knüppel begann, auf Sommers einzuschlagen. Von da an war der Alte seinen Peinigern hilflos ausgesetzt. Es folgte eine unbarmherzige Orgie der Gewalt. Immer wieder schlugen die beiden schonungslos auf den wehrlosen Sommers ein, bis dieser regungslos am Boden liegenblieb. Als sie schließlich von ihn abließen, machten sie sich auf den Weg zum Albershof – um sich dort in aller Seelenruhe eine Pfeife anzuzünden.

Rademacher hatte von da an Gewissheit, dass Ratering und Richters Wort gehalten hatten. Sommers zur Hilfe zu kommen, kam für ihn jedoch nicht in Frage. Der Schwerverletzte lag mit unzähligen Knochenbrüchen in der Homer Heide unter freiem Himmel zu einer Zeit, als die ersten kalten Nächte den bevorstehenden Herbst schon ankündigten. Unter unsäglichen Schmerzen schleppte er sich auf allen Vieren noch etwa 100 Meter voran, bis er schließlich völlig entkräftet zusammenbrach. Erst am nächsten Morgen begann die Suche nach dem Alten. Nachbarn fanden den Unglücklichen schließlich, brachten ihn nach Hause und legten ihn in sein Bett. Die eilends verständigte Gendarmerie war sofort zur Stelle. Mit seinen letzten Kräften konnte Sommers noch berichten, was ihm widerfahren war. Die Täter hatte er indessen nicht erkannt. Kurz darauf erlag der 73-Jährige an seinen Verletzungen.
Anstifter und Täter wurden schnell ermittelt
Sofort begannen die Behörden mit den Ermittlungen nach den Tätern. Der Umstand, dass dem Überfallenen weder Taschenuhr noch Geld abgenommen wurden, deutete sofort darauf hin, dass Raub nicht das Motiv war. Bei der näheren Untersuchung des Umfeldes des Toten geriet Rademacher schon bald ins Visier der Ermittlungen. Weil Rademacher den beiden Schergen noch den vereinbarten Lohn schuldete, ließ sich Ratering zu einer unbedachten Äußerung hinreißen. Hierdurch wurden die Ermittlungen schließlich auf ihn und seinen Komplizen gelenkt. Am 07.09.1855 wurde Wenzel Sommer beigesetzt und nur wenige Tage später wurde zur bekannt, dass sowohl die beiden Täter als auch der Anstifter verhaftet werden konnten.
Herbst und Winter zogen ins Land. Im Januar 1856 kam es schließlich vor dem Schwurgericht in Münster zum Strafprozess. Für die Verhandlung waren mit dem 24. und 25. Januar gleich zwei Tage angesetzt. Angeklagt waren Rademacher für die Anstiftung der Tat, Ratering und Richters für deren Ausführung und Bielefeld, der die Kontakte hergestellt hatte. Alle Angeklagten bekannten sich grundsätzlich zu dem Verbrechen. In ihren Verteidigungsbemühungen versuchten die Hauptangeklagten lediglich, die Hauptschuld auf den jeweils anderen abzuwälzen. So behauptete Ratering etwa, dass Rademacher noch in der besagten Nacht den schwerverletzten Sommers aufgesucht hätte, um ihn den Rest zu geben. Dies und auch der Vorwurf, dass er bei dem Sterbenden auf dem Totenbett noch nachgeholfen hätte, konnten Rademacher nicht nachgewiesen werden. All dies konnte aber den Schuldspruch der Angeklagten nicht abwenden.
Das Strafmaß für Rademacher als Haupträdelsführer lautete schließlich 18 Jahre Zuchthaus. Ratering wurde als Haupttäter verurteilt und erhielt eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren. Der noch sehr junge Richter kam mit einer Zuchthausstrafe von vier Jahren noch milde davon. Bielefeld erhielt für seine Mitwirkung eine Strafe von einem Jahr.
Das Leben ging weiter – aber nicht für alle
Für Richters ging das Leben nach Verbüßung seiner Zuchthausstrafe weiter. Er heiratete am 26.11.1861 in Borken die um 1836 geborene Gertrud Niehaus. Eine Tochter wurden den Eheleuten in Borken geboren. Danach zog die Familie nach Essen-Dellwig, wo noch mindestens eine weitere Tochter folgte. Ein langes Leben war Peter Richters allerdings nicht mehr beschieden denn er starb am 19.05.1875 in Essen Dellwig im Alter von nur 41 Jahren. Auch Ratering wurde nicht alt. Er trat am 01.06.1856 seine Haftstrafe in der neuen Strafanstalt in Münster an. Dort starb er bereits am 21.11.1859 und wurde am 25.11.1859 auf dem Anstaltsfriedhof begraben. Gerhard Heinrich Rademacher starb am 07.09.1869 in der Strafanstalt Münster an den Folgen der sogenannten Wassersucht. Am 10.09.1869 wurde er auf dem Friedhof der Strafanstalt begraben.
Rademachers einzige Tochter, Charlotte Elisabeth Adolphine, die von ihrem Vater zur Erlangung von Besitz und sozialer Anerkennung instrumentalisiert worden war, war nicht nur das erste Opfer seiner Machenschaften, sondern hat zudem von alledem nichts gewusst. Aber auch für sie nahm das Leben seinen Lauf. Die junge Witwe lebte zunächst noch ein paar Jahre auf dem Albershof in Rhedebrügge. Am 17.06.1863 heiratete sie dann in St.-Gudula in Rhede den aus Vardingholt stammenden Johann Heinrich Sieverding gnt. Küppers, zu dem sie auf den Hof zog. Die Eheleute bekammen noch zwei Kinder. Aber schon am 23.10.1867 starb Charlotte Elisabeth Adolphine mit nur 30 Jahren.
Der Albershof in Rhedebrügge Nr. 28, später Albersweg 4, wurde in den 1870er Jahren von Theodor Döring aus Suderwick übernommen und befindet sich bis heute in Besitz der Nachfahren.
© H. Krasenbrink
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Quellen:
Wesfälische Zeitung, Paderborn 8 (16/09/1855) 216
Westfälischer Merkur (27/01/1856) 23
Münsterischer Anzeiger (27/01/1856) 23
Düsseldorfer Anzeiger (11/09/1855) 218
Soliger Zeitung, September 1855
Westfälische Zeitung, Paderborn 9 (01/03/1856) 52
Clevisches Volksblatt 8 (05/03/1856)
Kirchenbuch St. Remigius, Borken, KB006_1/Seite 236
Kirchenbuch St. Remigius, Borken, KB017/Seite 103
Kirchenbuch St. Remigius, Borken KB 018/Seite 262
Kirchenbuch St. Remigius, Borken KB013b/Seite 44
Kirchenbuch St. Gudula, Rhede KB015/Seite 33
Kirchenbuch St. Gudula, Rhede KB018/Seite 74
Kirchenbuch St. Remigius, Borken KB017/Seite 29
Kirchenbuch St. Remigius, Borken KB014/Seite 120
Kirchenbuch St. Remigius, Borken KB006/Seite 333
Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland, PA 3103 (Personenstandsregister Sterbefälle), Nr. 8419
Abbildungen:
Abbildung 1: Steckbrief Friedrich Ratering aus Münsterisches Intelligenzblatt (11/06/1831) 70
Abbildung 2: Auszug aus der Preußischen Uraufnahme von 1836 – 1850, abrufbar unter https://www.tim-online.nrw.de
Abbildung 3: KI-generierte Illustration
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