Wüllen 1907: Tierheilkunde

Diesen Freitag sollten die Schulkinder aus Ortwick bei Ahaus so schnell nicht vergessen. Schon in der Morgendämmerung des 1. Februar hatten sie auf ihrem Schulweg von der Wiethoffs Stegge in etwa 15 Meter Entfernung in der Weide von Schulze Gehring ein merkwürdiges Bündel liegen sehen. Als sie auf ihrem Heimweg gegen 11 Uhr erneut an der Stelle vorübergingen, sahen sich die Kinder ihren Fund aus der Nähe an. Sie näherten sich der Stelle und ein Schreck durchfuhr ihre Glieder. Das vermeintliche Bündel entpuppte sich als die Leiche einer jungen Frau. Sofort meldeten die Kinder ihre grausige Entdeckung und schon nach kurzer Zeit waren Landjäger zur Stelle. An diesem Tag gab es in ganz Wüllen kein anderes Gesprächsthema mehr, denn die tote Person war eine von ihnen.

Das Gesicht der Toten war mit einem bräunlichen Pulver unkenntlich gemacht worden. Ihre Kleider waren mit Stroh oder Spreu verschmutzt. In ihrer Tasche befanden sich ihr Gebetbuch und ihr Rosenkranz. Doch auch diese Habseligkeiten hatten die junge Frau nicht vor ihrem Schicksal bewahren können. In dem Gebetbuch war der Name der Toten geschrieben. Damit waren rasch die letzten Zweifel beseitigt, um wen es sich bei der Toten handelte: Es war die 16-jährige Christina Baumeister aus der Wüllener Bauerschaft Sabstätte.

Ein rätselhaftes Verbrechen

Die herbeigerufenen Landjäger erkannten sofort, dass sie es mit einem Verbrechen zu tun hatten. Christinas Schuhe waren trotz der feuchten und kalten Witterung gänzlich sauber. Das ließ vermuten, dass die junge Frau bereits tot war, als man sie auf die Weide abgelegt hatte. Noch am Nachmittag wurde die Leiche nach Ahaus ins Krankenhaus gebracht. Dort wurde in Anwesenheit der Staatsanwaltschaft von einer eilends zusammengestellten amtsärztlichen Kommission eine Obduktion vorgenommen. Hierbei wurde festgestellt, dass Christina nicht auf natürliche Weise, sondern durch Ersticken zu Tode gekommen war. Der exakte Todeszeitpunkt ließ sich hingegen nicht zweifelsfrei festgestellt, aber die Mediziner vermuteten, dass sie nicht länger als ein bis zwei Tage tot war. Und noch etwas konnten selbst Laien auf dem ersten Blick erkennen: Die junge Frau war schwanger.

Abbildung 1

Knapp 17 Jahre zuvor wurde Christina als zweites von sechs Kindern der Eheleute Heinrich Baumeister und Elisabeth Middendorf in der Bauerschaft Quantwick geboren. Die Familie wohnte dort bis zu Beginn der 1890er Jahre, bezog dann aber die Leibzucht des Hofes Brinkmann in der zum Kirchspiel Wüllen gehörenden Bauerschaft Sabstätte.

Christina Baumeister wurde am 15.03.1890 in Quantwick geboren. Ihre Eltern waren der Tagelöhner und Leibzüchter Johann Heinrich Baumeister, geboren am , und Elisabeth Middendorf, geboren am.

Christina hatte noch fünf Geschwister:

  • Bernhard Baumeister, *08.02.1888 in Estern
  • Johann Gerhard Baumeister, *10.08.1892 in Quantwick, +23.12.1894
  • Elisabeth Gertrud Baumeister, *17.01.1895 in Sabstätte, +08.02.1947
  • Elisabeth Baumeister, *23.09.1897 in Sabstätte Nr.1, +26.01.1900
  • Maria Anna, *20.03.1900 in Sabstätte, +11.01.1971

Im Jahre 1905 wurde Christina aus der Schule entlassen. Als Tochter eines mittellosen Elternhauses war ihr weiterer Werdegang vorherbestimmt. Daher war sie in den Dienst der Witwe Kortboyer gnt. Duvenbeck getreten, auf deren Kotten in Oberortwick Nr. 24 sie zum Zeitpunkt ihres Todes schon seit längerem als Magd arbeitete und auch wohnte.

Die Witwe Kortboyer hieß eigentlich Anna Margaretha Wittland. Ihr Ehemann, Hermann Kortboyer, war fünf Jahre zuvor verstorben. Ihre fünf Kinder waren inzwischen alle erwachsen aber noch unverheiratet und lebten noch allesamt auf dem Hof. Die 16jährige Magd Christina war daher die jüngste Bewohnerin des kleinen Kotten Duvenbeck im Norden des Waldgebietes Bröke.

Heinrich Hermann Kortboyer gnt. Duvenbeck wurde am 28.02.1836 in Wüllen geboren. Am 26.11.1872 heiratete er die am 25.01.1840 in Wessum geborene Anna Margaretha Wittland. Die Eheleute hatten fünf Kinder:  

  • Theodor *08.02.1881, +04.12.1961
  • Bernhard Heinrich Kortboyer gnt. Duvenbeck *02.02.1874
  • Heinrich Kortboyer gnt. Duvenbeck, *15.07.1875
  • Anna Maria Kortboyer gnt. Duvenbeck, *22.10.1876 +12.01.1958
  • Hermann Kortboyer gnt. Duvenbeck, *12.11.1878

Was geschah auf dem Hof Duvenbeck?

Noch am gleichen Tag, an dem die Kinder Christinas Leiche gefunden hatten, begannen im häuslichen Umfeld der Familie Kortboyer die polizeilichen Ermittlungen. Hierbei ergab sich, dass die junge Magd am vorangegangenen Sonntag in Begleitung der Brüder Bernhard und Hermann Kortboyer am Nachmittag zum Gottesdienst nach Wüllen aufgebrochen war. Bernhard, der ältere der beiden Brüder, war gegen 17 Uhr wieder nach Hause gekommen und hatte seiner Mutter mitgeteilt, dass Christina um ein paar freie Tage gebeten hätte. Sie wollte angeblich ihre Eltern in der etwa fünf Kilometer entfernten Bauerschaft Sabstätte besuchen. Etwa eine Stunde später traf auch Hermann, der jüngere der beiden Brüder, wieder zuhause ein.

In ihrem Elternhaus in Sabstätte war die junge Magd jedoch nie angekommen. Stattdessen erhielt die Witwe Kortboyer am 1. Februar einen vom 30. Januar datierten Brief. In dem Schreiben teilte Christina ihrer Dienstherrin mit, dass sie erkrankt sei und erst am Samstag zurückkommen werde. Die Ermittler verglichen die Handschrift mit anderen Schriftstücken der Toten. Sie stellten fest, dass dieser Brief wahrscheinlich nicht von der Toten verfasst worden war. Wo Christina sich während der Zeit bis zu ihrem Tod aufgehalten hatte, blieb weiterhin unklar.

Unklar war auch der Verbleib von Heinrich Kortboyer, dem zweitältesten Sohn des Hauses. Der 31-Jährige hatte am Morgen des 1. Februar in aller Herrgottsfrühe den Hof verlassen. Von seiner Familie hatte er sich noch verabschiedet und ihr wissen lassen, dass er nach Ahaus zum Gericht wollte. Seine Familie konnte sich darauf keinen rechten Reim machen. Sie vermuteten stattdessen, dass Heinrich nach Legden auf den Markt wollte, um dort ein Rind zu kaufen. Davon hatte er schon länger gesprochen. Wozu sonst hatte er wohl die 270 Mark eingesteckt? Seitdem war er jedoch nicht mehr gesehen worden.

Die Witwe Kortboyer begann, sich Sorgen um ihren Sohn zu machen. Da Heinrich auch an den darauffolgenden Tagen nicht zurückkehrte war immer mehr zu vermuten, dass er etwas mit Christines Schwangerschaft zu tun haben könnte. Noch schwerer lastete der Verdacht, dass sein Verschwinden sogar mit Christinas Tod im Zusammenhang stehen könnte.

Drei Tage später erhielt die Familie Gewissheit. An diesem Montag erreichte ein Brief aus den benachbarten Niederlanden die tiefbetrübte Witwe Kortboyer. In dem Schreiben bekannte sich ihr Sohn Heinrich reumütig dazu, dass er der Vater des ungeborenen Kindes der Christina sei. Mit dem Zug war er bis nach Rotterdam gefahren. Dort wolle er sich einzuschiffen und nach Amerika flüchten. In dem Brief gab sich Heinrich reumütig und bat um Verzeihung für all das, was geschehen war.

Christina war in großer Not

Wie gut oder schlecht es der 31-jährige Heinrich mit der noch minderjährigen Magd gemeint hatte, kann nur vermutet werden. Wenig spricht dafür, dass es sich um eine einvernehmliche Beziehung auf Augenhöhe gehandelt haben könnte. Zwar ist in den Quellen die Rede von einem „Liebesverhältnis“ und auch wird Christina als „Braut“ des Heinrich bezeichnet. Angesichts des erheblichen Alters- und Machtgefälles ist bei dieser Einordnung jedoch Skepsis angebracht. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass Christina von Heinrich missbraucht wurde.

Auch unter den zu Beginn des 20. Jahrhunderts geltenden Rechtsnormen hätte Heinrichs Tat entweder den Tatbestand der Notzucht erfüllt oder zumindest als Verstoß gegen die Sittlichkeit gegolten. Als unsittlich galt jedoch weniger der Altersunterschied. Mit Zustimmung ihrer Eltern hätte Christina trotz ihres jungen Alters eine Ehe mit Heinrich eingehen können. Als unzüchtig galt vielmehr der Umstand der Ehelosigkeit und dass Heinrich und Christina unter einem Dach wohnten.

Unter diesen zweifelhaften Umständen wurde Christina im Jahr vor ihrem Tod schwanger und damit zugleich in einen unvorstellbaren Konflikt gestürzt. Ein uneheliches Kind bedeutete für eine junge Mutter die unbarmherzige soziale Ächtung. Nicht selten drohte die Stigmatisierung als sogenanntes Gefallenes Mädchen. Blieb sie mit ihrem Kind auf sich allein gestellt, dann war dies eine existentielle Bedrohung für sie selbst und ihr Kind. Wer würde ihr noch Arbeit geben? Wer würde ihr Schutz gewähren?

Das Familienrecht verlangte im Falle einer unehelichen Geburt die Benennung eines Vormundes. Nicht selten übernahm der Vater der unehelichen Mutter diese Rolle. Dennoch war für ein uneheliches Kind dies der denkbar schlechteste Start ins Leben. Nicht nur die Mutter, sondern auch das Kind selbst blieben oft ein Leben lang mit einem Makel behaftet. Hinzu kam noch, dass die Kirche in ihrer moralischen Auffassung den betroffenen Frauen immerzu zu verstehen gab, eine schwere Sünde begangen zu haben, die ihr Seelenheil gefährden würde. Viele Opfer wurden zu Täterinnen erklärt, indem sie beschuldigt wurden, den Mann verführt zu haben.  

Der Vater eines unehelichen Kindes hatte es dagegen wesentlich leichter. Zwar bestand auch für ihn die Gefahr, dass sein Leumund beschädigt wurde. Die Folgen waren aber weniger existenziell. Hätte sich Heinrich zu seiner Vaterschaft bekannt, dann hätte dies gleichlautend die Eheschließung mit Christina erfordert. Hätte er sich jedoch nicht zu seinem Kind bekannt, hätte er ungeachtet seiner moralischen Verantwortung seiner Wege gehen können. Christina wäre es möglicherweise nie gelungen, Beweise für Heinrichs Vaterschaft vorzubringen. Dem Kind oder der Mutter gegenüber wäre er dann rechtlich zu nichts verpflichtet gewesen. Schlimmstenfalls wäre sein Ruf ruiniert, wodurch aber seine Existenz nicht bedroht worden wäre, zumal seine Familie noch Besitzer eines Hofes war.

Die 16-jährige mittellose Christina war daher dem 31-jährigen Hofbesitzer Heinrich vollkommen ausgeliefert. Für Heinrich hingegen stand lediglich sein guter Ruf auf dem Spiel. Wäre der Jungbauer ein vollkommen gewissenloser Mensch gewesen, dann hätte er die Magd einfach vor die Tür setzen und sie ihrem Schicksal überlassen können. Er traf jedoch eine andere, nicht weniger verhängnisvolle Entscheidung, mit der er glaubte, den Konflikt lösen zu können.

Ein Quacksalber mit zweifelhaftem Ruf

Heinrich brachte in seinem Brief zwar Reue für seine Tat zum Ausdruck. Zugleich betonte er aber, dass er nur indirekt an dem Tod von Christina Baumeister beteiligt gewesen sei. Als Hauptverantwortlichen beschuldigte er eine andere Person, auf die sich von da an die weiteren Ermittlungen konzentrierten. Ihr Name war Hubert Locks. 

Locks war eine fragwürdige Person, der ein sehr schlechter Ruf vorauseilte. Über die Jahre hatte er ein beachtliches Vorstrafenregister mit kleineren und größeren Verfehlungen aufgebaut. Zu seinen Delikten gehörten Wechselfälschungen, Hausfriedensbruch, Verkauf von verdorbenem Fleisch, Jagdvergehen und Kuppelei. Als Berufsbezeichnung führte er, wie schon sein Vater, die eines Tierheilkundigen. In einer Zeit, als die Tiermedizin als ordentliche wissenschaftliche Disziplin noch in den Kinderschuhen steckte, hatten Quacksalber häufig leichtes Spiel. Nicht selten hing die Existenz einer ganzen Familie von einer einzigen Kuh ab, und wenn diese krank war, dann war die Bereitschaft groß, diese einem Kurpfuscher wie Locks anzuvertrauen.

Hubert Locks wurde am 18.01.1864 in Asbeck als neuntes von 13 Kindern des Tierarztes und Schankwirts Johann Bernard Henrich Locks und Franziska Nettels geboren. Er heiratete am 21.06.1886 in Ahaus die am 15.08.1861 geborene Schankwirtstochter Adelheid Antonia Schülter aus Wüllen. Die Eheleute hatten vier Kinder:

  • Auguste *1888 +01.12.1907 in Ahaus Krankenhaus
  • Heinrich *1886 in Asbeck +13.11.1918 in Ahaus
  • Gertrudis *21.03.1891 in Asbeck +05.04.1891 in Asbeck
  • Franz Hermann *1892 +16.02.1894 in Asbeck

Am 31.03.1894, starb Antonia Schülter im Osterwicker Krankenhaus. Bereits am 22.04.1895 ging er in Legden eine zweite Ehe ein mit der aus Quakenbrück stammenden Maria Henriette Lansing.

  • Wilhelmina Josepha Friederika *01.1896 +25.02.1896 in Wessendorf (Stadtlohn)
  • Maria Martha *01.1898 in Mönchengladbach +25.04.1898 in Bocholt (Hochfeldstraße 144)
  • Josef *04.01.1900 +04.01.1900 in Mönchengladbach (Pescherstraße 93)
  • Julius Friedrich *08.1901 +10.10.1901 in Ahaus
Abbildung 2

Sein übler Ruf schien für Locks jedoch kein Problem zu sein, denn der sogenannte Tierheilkundige war äußerst mobil. In den Jahren zwischen 1895 und 1905 wechselte er immer wieder seinen Wohnort, um mal hier und mal dort sein Unwesen zu treiben. So wohnte er um 1896 in Stadtlohn, um 1898 in Mönchengladbach und Bocholt, 1899 wieder in Ahaus, 1900 erneut in Mönchengladbach und schließlich wieder in Wessum. Locks verstand sich also darauf, wehr- und ahnungslose Tierhalter mit zweifelhaften Methoden in Notsituationen über den Tisch zu ziehen.

Ein lukrativer Nebenerwerb

Neben seiner Tierheilkunde betrieb Locks noch ein weiteres, wesentlich einträglicheres Geschäft. Sogenannte Handlungen gegen das keimende Leben hatte es in der Geschichte immer gegeben. Seit Einführung des StGB im Jahre 1871 stellte Abtreibung im gesamten Deutschen Reich eine Straftat dar, die seitdem in den §§ 218 ff geregelt ist. Wie alles, was die Sexualität betraf, war auch das Thema Abtreibung stark tabuisiert und in der Öffentlichkeit kaum existent. Die vielfach große Not der betroffenen Frauen spielte weder in der Medizin noch in der Rechtsprechung eine Rolle.

Kaum ein seriöser Arzt wäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Idee gekommen, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Stattdessen wurden unter Inkaufnahme höchster gesundheitlicher Risiken massenhaft Abtreibungen meist von den Frauen selbst vorgenommen. Dieses Klima der Angst und der Not bot medizinischen Scharlatanen die Möglichkeit, ein lukratives Geschäft gewerbsmäßiger Abtreibung zu betreiben. Dieses fand ausschließlich im Verborgenen statt und Frauen waren den Kurpfuschern hilflos ausgeliefert – samt aller Risiken und Nebenwirkungen.

Locks ging dieser Tätigkeit im großen Stil nach. Die erforderlichen Medikamente und Drogen besorgte er sich aus diskreten Quellen in den Niederlanden. Seine Kundschaft wurde ihm über Vermittler zugeführt, die hierfür Provisionen erhielten.  

Verhaftungen in Rotterdam und St. Pauli

Nur wenige Tage nachdem Heinrich seinen Brief aus Rotterdam nach Hause geschickt hatte, konnte er mit Amtshilfe der niederländischen Gendarmerie in Rotterdam verhaftet werden. Er hatte seine Mutter um einen Antwortbrief an eine angegebenen Chiffre-Nummer gebeten. Damit war für die Polizei seine Ergreifung eine leichte Angelegenheit. Den bezichtigten Locks konnte die Polizei zunächst nicht ergreifen, weil er ebenso wie Heinrich kurz nach dem Fund der Leiche untergetaucht war. Am Samstag, den 9. Februar, wurde jedoch zunächst in Ahaus seine Frau, Maria Lansing, festgenommen und nach Münster ins Gefängnis überführt. Noch am gleichen Tag gelang es der Polizei, Locks in Hamburg St.-Pauli zu verhaften, wo er bei Verwandten Unterschlupf gesucht hatte.

Die Festnahme des Locks waren der Beginn weiterer Ermittlungen, die nach und nach das ganze Ausmaß seines Geschäftes offenlegten. Zahlreiche weitere Beteiligte konnten ausfindig gemacht werden und es kam zu weiteren Festnahmen.

Strafprozess vor dem Schwurgericht

Am 5. Juli 1907 kam es schließlich vor dem Schwurgericht in Münster zum Strafprozess, für den zwei Tage angesetzt waren. Neben den beiden Hauptangeklagten Hubert Locks und Heinrich Kortboyer mußten sich noch fünf weiter Personen vor Gericht verantworten. Zum Prozessbeginn gab es einen starken Besucherandrang. Dieser wurden jedoch nach der ersten Vernehmung des Hauptangeklagten enttäuscht, weil danach auf Antrag der Verteidigung die Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde.

In dem Prozess wurde offenkundig, dass Heinrich die schwangere Christina dazu gedrängt hatte, von Locks eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Nachdem der Kontakt zu Locks hergestellt war und die Beteiligten sich über die Konditionen einig waren, hatte sich Christina in Begleitung von Heinrich am Sonntag, den 25. Januar, nach dem Besuch des Nachmittagsgottesdienstes in die Wohnung des Locks begeben.

Dort hatte Locks der jungen Frau die Medikamente zur Auslösung der Abtreibung verabreicht. Die Drogen zeigten heftige Wirkung. Es kam zu schweren Komplikationen, infolgedessen Christina verstarb. Von Panik und Ratlosigkeit getrieben hatten Locks und Kortboyer die Leiche in einem Wäschekorb zu der Stelle gebracht, wo sie am 1. Februar aufgefunden wurde.

Im weiteren Verlauf des Prozesses wurde Heinrichs Brief an seine Mutter verlesen. Hier drin brachte er sein tiefes Bedauern, Reue und Trauer um die junge Frau zum Ausdruck. Vor dem Hintergrund seiner bisherigen Unbescholtenheit und seines guten Leumundes kam das Gericht zu der Auffassung, ihm mildernde Umstände zuzubilligen.

Das Ausmaß des Komplexes wird deutlich

Locks hingegen blieben mildernde Umstände verwehrt. Weitere Zeugen und Angeklagte offenbarten die Gewerbsmäßigkeit seiner Tätigkeit und wessen Hilfe er dafür in Anspruch nahm. Für eine Abtreibung pflegte er ein Honorar von 100 Mark zu verlangen, was mehr als dem Monatslohn eines Arbeiters entsprach. Sein Kundenkreis reichte von Osnabrück bis ins Rheinland. In Osnabrück hatte er seine Dienstleistung für Anna und Elisabeth Köster erbracht. Die beiden Schwestern waren in dem Prozess mit angeklagt und wurden jeweils zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.

Eine weitere Mitangeklagte war die am 18.10.1872 in Münster geborene Johanna Plumpe, die dort der bürgerlichen Mittelschicht angehörte. Am 23.11.1894 heiratete sie den aus Wittgendorf in Sachsen stammenden Sohn eines Industriellen, den Sekretär Paul Eichler, mit dem sie zwei Kinder hatte. Am 02.02.1905 starb Paul Eichler in der Provinzialheilanstalt in Lengerich. Im darauffolgenden Jahr wurde Johann Plumpe jedoch wieder schwanger, infolgedessen sie die Dienste von Locks in Anspruch nahm. Auch sie wurde hierfür zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.   

Als Agentin für Locks agierte eine weitere Person aus Münster, die ebenfalls unter Anklage stand. Ihr Name war Auguste Statschinko. Sie stammte aus Hof in Bayern, wo sie am 09.05.1867 geboren wurde. Sie war verheiratet mit dem aus Böhmen stammenden Betonarbeiter Franz Xaver Celli, wohnte um 1900 in Epe und zog 1901 nach Münster. Im Hauptberuf verdingte sich Auguste Statschinko als Kartenlegerin und Wahrsagerin. Aus der Scharlatanerie ihrer Weisheit machte sie auf Nachfrage keinen Hehl. An ihre Wahrsagerei würde sie selbst nicht glauben und es wäre für sie unbegreiflich, wie viele Menschen bereit wären, für diesen Unfug Geld zu bezahlen. Ihre Nebentätigkeit war die Vermittlung von Kundschaft an Locks, wofür sie pro Person 17 Mark erhielt. Das Gericht verurteilte sie dafür zu einem Jahr Gefängnis. Gleichzeitig belastete sie mit ihrer Aussage Locks erheblich.

Locks geriet im Laufe der Verhandlung immer mehr in Bedrängnis. Doch anstatt Reintisch zu machen und endlich ein umfassendes Geständnis abzulegen, versteifte er sich weiterhin auf das hartnäckige Leugnen seiner Machenschaften und zeigte keinerlei Schuldbewusstsein. Aber all dies half ihm nichts. Am Ende erkannten die Geschworenen Locks für schuldig und das Gericht verurteilte ihn zu sechs Jahren Zuchthaus.

Als einzige der Angeklagten wurde Maria Henriette Lansing von allen Vorwürfen freigesprochen. Der Frau von Locks konnte keine Schuld nachgewiesen werden. Neun Monate nach dem Prozess, am 24.04.1908, erwirkte sie die Scheidung ihrer Ehe mit Locks, um an einem anderen Ort ein Neuanfang zu wagen. Sie zog in die Niederlande und heiratete dort Gerrit Jan ter Hedde. Ihr neues Leben sollte aber keine zehn Jahre mehr andauern, denn schon am 26.12.1918 starb sie in Helmond, Noord Brabant, im Alter von nur 41 Jahren.

Das Leben geht weiter

Um Locks wurde es nach seiner Verurteilung erst einmal still. Nach Verbüßung seiner Haftstrafe versuchte er, wieder in seinem bisherigen Beruf als Tierheilkundiger Fuß zu fassen. Seine Masche blieb im Wesentlichen unverändert. Häufige Wohnortswechsel gingen einher mit Hochstaplerei und unseriösen Versprechungen. So annoncierte er beispielsweise in der Zeitung, dass er befallene Tiere innerhalb von wenigen Tagen von der gefürchteten Maul- und Klauenseuche heilen könne. Ob es immer noch Tierhalter gab, die ihm Glauben schenkten, darf bezweifelt werden.

Abbildung 3

Unzweifelhaft ist aber, dass Locks in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg erneut und wiederholt Schwangerschaftsabbrüche vornahm. Im November 1922 musste er sich dafür erneut vor dem Schwurgericht in Münster verantworten, was für ihn eine Verurteilung zu zwei Jahren Zuchthaus nach sich zog. Aber auch danach war er noch nicht geläutert. Im Januar 1925 setzte es für das gleiche Vergehen nochmals eine Zuchthausstrafe von sechs Jahren. Einen erheblichen Teil seines späteren Lebens verbrachte er also in Unfreiheit. Locks starb am 22.12.1934 in Ahaus im Alter von 70 Jahren.

Infolge der Affäre war der Ruf der gesamten Familie Kortboyer zerstört. Bereits bestehende Verlöbnisse wurden wieder aufgelöst und sowohl Heinrich also auch seine Geschwister blieben unverheiratet. Anna Margaretha Wittland starb am 10.12.1921, nicht ohne auf ihrem Sterbebett ihre Kinder zum Zusammenhalt zu ermahnen. Heinrich verfolgte das Geschehene sein ganzes Leben lang und ließ ihn zu einem verbitterten Menschen werden. Er starb am 02.06.1969

Abbildung 4

© H. Krasenbrink

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Quellen:

Ahauser Kreiszeitung, 27 (13/02/1907) 13

Ahauser Kreiszeitung, 27 (06/07/1907) 54

Münsterischer Anzeiger, 56 (06/07/1907) 442

Münsterischer Anzeiger, 56 (08/07/1907) 448

Münsterischer Anzeiger, 56 (07/07/1907) 446

Bielefelder Volkszeitung,(09/07/1907) 155

Die Glocke, (02/02/1925) 26

Landesarchiv NRW, Abteilung Ostwestfalen-Lippe, P 9 / 1 (Standesämter Kreis Ahaus), Nr. 3058 Seite 10

Kirchenbuch St. Andreas Wüllen, KB 009/Seite 179

Kirchenbuch St. Andreas Wüllen, KB 010/Seite 144

Landesarchiv NRW, Abteilung Ostwestfalen-Lippe, P 9 / 1 (Standesämter Kreis Ahaus), Nr. 191 Seite 70  

Kirchenbuch St. Andreas Wüllen, KB 009/Seite 109

Stadtarchiv Münster, Einwohnermelderegister der Stadt Münster alphabetisch nach Nachnamen, Caas – Czyron

Landesarchiv NRW, Abteilung Ostwestfalen-Lippe, P 9 / 1 (Standesämter Kreis Ahaus), Nr. 159 Seite 102

Mündliche Überlieferungen

Prof. Dr. Anna Bergmann (2024): Die Abtreibungspraxis im Deutschen Kaiserreich, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv

Abbildungen:

Abbildung 1: KI generierte Illustration

Abbildung 2: Ahauser Kreiszeitung, 18 (08/10/1898) 81

Abbildung 3: Ahauser Kreiszeitung, 49 (12/01/1929) 12

Abbildung 4: Totenzettel Heinrich Kortboyer


Eine Antwort zu „Wüllen 1907: Tierheilkunde“

  1. Avatar von Bernd Theo Grimmelt
    Bernd Theo Grimmelt

    Es macht Freude die Geschichte zu lesen.
    Die Recherchen sind sehr umfangreich und der Bericht ist auch interessant, obwohl die Familie und der Wohnort bzw Bauerschaft nicht bekannt ist.

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