Der Bäcker, Wirt und Krämer Franz Tinnefeld hatte sein Leben schon länger nicht mehr im Griff. In seiner Schenke in der Bocholter Ravardistraße war er selbst sein bester Gast. Mit seiner Frau und seinem Stiefsohn lag er ständig im Streit, der schließlich eskalierte.
Franz Tinnefeld war mal wieder spät dran. Zum Abend des 5. Dezember 1891 waren die 39er zu ihrem vorweihnachtlichen Kameradschaftsabend in seiner Gaststätte angemeldet. Die Mitglieder dieses Bocholter Kriegervereins brachten gewöhnlich einen gesunden Appetit mit und erwarteten, dass der Wirt entsprechend auftischt. Auch floß immer viel Schnaps und Bier durch die Kehlen der Herren. Er erwartete also die besten Gäste, die man sich als Wirt nur wünschen kann. Aber der verfluchte Alkohol war eben genau das, was Tinnefeld während der letzten Jahre selbst zum Problem geriet.
Auch an diesem Samstag war er wieder einmal schon mittags in die Stadt gegangen, um sich dort einen anzutrinken. Dabei vergaß er wie so oft die Zeit, so dass er erst gegen 17 Uhr zurückkehrte. Nun mußte es schnell gehen, denn in Kürze sollten die 39er kommen und es war noch nichts vorbereitet. Aber ausgerechnet jetzt stellte sich sein Stiefsohn Heinrich wieder einmal äußerst bockig an. Dabei sollte er doch nur den Handwagen saubermachen. Heinrich gehörte nicht zu den hellsten Köpfen und das brachte den Bäcker immer wieder in Rage. Was er aber vor allem nicht ausstehen konnte war, dass sich seine Frau Helena Terfrüchte immer wieder schützend vor ihren Sohn stellte und für ihn Partei ergriff.
Früh verwitwet und verweist
Helena hatte es schon in Ihrem früheren Leben selten leicht gehabt. Sie war das Älteste von vier Kindern des Stadtlohner Leibzüchters Johann Gerhard Terfrüchte und seiner Frau Johanna Lina Köhne. Der kleine angepachtete Kotten reichte wahrscheinlich gerade aus, um die Familie über Wasser zu halten. Zu Beginn der 1860er Jahre zog Helena fort, um ihr Glück in der etwa 30 Kilometer entfernt liegenden aufstrebenden Stadt Bocholt zu suchen.
Helena Terfrüchte wurde am 29.11.1840 in Stadtlohn geboren. Ihre Eltern waren Johann Gerhard Terfrüchte und Johanna Lina Köhne. Sie hatte noch drei Geschwister:
- Gerhard Friedrich ✶08.01.1843
- Maria Anna ✶03.03.1846
- Bernhard Friedrich ✶26.11.1849
Am 13.05.1865 heiratete sie in St. Georg in Bocholt den am 03.03.1837 geborenen Johann Heinrich Joseph Nienhaus aus Bocholt, den Sohn des Wirts Henrich Nienhaus und seiner Frau Gertrud Epping. Der Sohn Heinrich war das einzige Kind der Eheleute, und wurde am 26.11.1865 in Bocholt geboren. Johann Heinrich Josef Nienhaus starb am 01.05.1868.
In Bocholt lernte sie den drei Jahre älteren Johann Heinrich Joseph Nienhaus kennen und die beiden wurden ein Paar. Seine Eltern betrieben an der Dinxperloer Chausee in der Bocholter Feldmark eine kleine Schenke unter der Hausnummer 716. Damit bot sich den jungen Leuten eine wirtschaftliche Perspektive zur Gründung einer Familie. Als die beiden im Mai 1865 heirateten war bereits Eile geboten, denn bei Terfrüchte zeigten sich schon die ersten Rundungen. Im November nach der Heirat kam der Sohn Heinrich zur Welt. Er sollte aber das einzige Kind der Eheleute bleiben, denn schon drei Jahre später verstarb Nienhaus im Alter von nur 32 Jahren.
Neue Hoffnung auf ein besseres Leben
Die junge Witwe schlug sich über 10 Jahre lang allein mit ihrem Sohn durchs Leben. Heinrich war das Einzige, was Helena von ihrer ersten Ehe geblieben war und die beiden durchlebten vermutlich schwere Zeiten. Mit den Jahren wuchs der Knabe aber heran zu einem jungen Burschen. Währendessen entschied sich ihre Stadtlohner Familie, in die Neue Welt auszuwandern. Ihre Eltern und Geschwister hatten in den 1870er Jahren Deutschland den Rücken gekehrt und waren nach Wisconsin in die USA immigriert. Vermutlich hatte auch Helena erwogen, es ihnen gleichzutun. Letztendlich blieb sie aber in Bocholt wohnen, wo sich neue Möglichkeiten eröffneten. Dort hatte sie nämlich Tinnefeld kennengelernt.
Wann und wo sich Tinnefeld und Helena zum ersten Mal begegneten, ist nicht bekannt. Fest steht jedoch, dass Anfang 1879 beide in der Bocholter Feldmark unter der Hausnummer 179 wohnten. So kam es, dass sich Helena nach über einem Jahrzehnt als Witwe dazu entschloss, im Februar 1879 eine neue Ehe einzugehen mit Tinnefeld. Danach sollte es nur bis November des Jahres dauern, bis die inzwischen 39-Jährige ihren zweiten Sohn Hermann gebar.
Franz Tinnefeld wurde am 23.02.1843 in Krechting geboren. Seine Eltern waren der Müller Theodor Tinnefeld und Agnes Elbers. Er hatte noch sieben ältere Geschwister. Am 11.02.1879 heiratete er in St. Georg in Bocholt die Witwe Helene Terfrüchte. Der gemeinsame Sohn Hermann wurde am 18.12.1979 in Bocholt geboren.
Tinnefeld kam ursprünglich aus Krechting aus der dort alteingesessenen und einflussreichen gleichnamigen Familie. Sein Vater war Müller und betrieb die Krechtinger Mühle an der Aa. Als jüngstes von acht Geschwistern verlor er ihn, als er 12 Jahre alt war. Beim Beruf seines Vaters war es für Tinnefeld möglicherweise naheliegend, das Bäckerhandwerk zu erlernen.
Aufschwung und Niedergang
Seit Anfang der 1880er Jahre betrieb Tinnefeld in Bocholt am Ende der Ravardistraße eine Bäckerei mit angeschlossenem Krämerladen und einer Wirtsstube. Ganz in der Nähe hatte bis vor wenigen Jahrzehnten noch das zur Rawerspurte gehörende Pförtnerhäuschen gestanden. Inzwischen waren aber die Relikte der alten Stadtbefestigung nahezu vollständig verschwunden. Stattdessen platze Bocholt mit seinen rasch wachsenden Textilfabriken mehr und mehr aus seinen alten Nähten. Die stark wachsende Bevölkerung in Bocholt mußte mit dem täglichen Brot versorgt werden. Auch die angeschlossene Gaststätte schien gut zu laufen in der aufstrebenden Kleinstadt mit ihren durstigen Arbeiterkehlen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen waren also gut, wenn – ja, wenn Tinnefeld nicht allmählich auf die schiefe Bahn geraten wäre.
In den folgenden Jahren geriet das Eheleben der beiden zunehmend aus den Fugen. Die ständigen Zwistigkeiten wurde mehr und mehr zur Belastung für die gesamte Familie. Dabei ist es einerlei, ob Tinnefelds Neigung zum Alkohol nun die Ursache oder die Folge des stetigen Unfriedens war. Ein großes Ärgernis war für Tinnefeld dabei vor allem der Stiefsohn Heinrich. Vom preußischen Militär wurde er aufgrund seiner geistigen Einschränkung vorzeitig entlassen. Tinnefeld empfand das offenbar als Schande und er hielt ihn für einen Taugenichts. Wenn er doch wenigstens ordentlich arbeiten würde.
Stattdessen lehnte sich Heinrich immer wieder offen gegen seinen Stiefvater auf. Dabei kam es sogar zu handfesten Auseinandersetzungen, wobei Heinrich einmal den Bäcker mit einem Spaten geschlagen hatte. Unerträglich wurde es für Tinnefeld aber immer dann, wenn sich bei diesen Eskapaden seine Frau immer wieder schützend vor ihren Sohn stellte. Ebenso schändlich verhielt sich aber auch Tinnefeld selbst, der häufig schon am Mittag angetrunken war. Der Hausfrieden war also nachhaltig gestört ohne Aussicht auf Besserung. Und weil Tinnefeld bei all seinen persönlichen Problemen auch das Geschäft zunehmend vernachlässigte, kamen zu allem Überfluss trotz guter Rahmenbedingungen auch noch wirtschaftliche Schwierigkeiten hinzu.
Sein Freund Johann Ellering ahnt Böses
Als es in der Nachbarschaft des Bäckers einmal zu einem Einbruch kam, schaffte sich Tinnefeld einen 6-schüssigen Revolver an. Seinem besten Freund, dem Bocholter Gastwirt Johann Ellering von der Neustraße, blieb dies nicht verborgen. Ihm gegenüber beklagte er sich auch immer wieder über seine familiären Probleme. Als er seinem Freund einmal anvertraute, dass er sogar mit dem Gedanken spielte, die Waffe gegen seine eigene Frau zu richten, schritt Ellering ein und nahm die Waffe zu sich in Verwahrung.
Aber auch andere Bocholter wussten davon, dass Tinnefeld einen Revolver besaß. Da war zum einen die Bocholter Ordnungsmacht selbst, in Persona des Polizeidieners Büdding und des Gendarmen Beck, die sich im Sommer 1891 für ihre Steifengänge durch die nächtliche Stadt die Waffe ausliehen. Beck war es, der den Revolver danach wieder an Tinnefeld aushändigte, nicht ohne ihn vorher vor den Gefahren der Waffe zu warnen. Zum anderen geriet im Herbst 1891 der Revolver aber auch Tinnefelds eigenem Bäckergesellen Bruns in die Hände. Beim beim Hantieren mit der Waffe feuerte er sogar einen Schuss ab.

Am späten Nachmittag des besagten 5. Dezember 1891 nahm das Unheil seinen Lauf. Der angetrunkene Tinnefeld verfiel in Stress, Hektik und vor allem in eine unbändige Wut. Weil sich sein Stiefsohn Heinrich wieder einmal querstellte, überhäufte er den Burschen mit Flüchen und warf ihm die üblichen Schimpftriaden an den Kopf. Dass sich wieder einmal seine Frau einmischte und ihre Hand über ihren Sohn hielt, steigerte seine Wut nur noch mehr. Heute schienen sich alle gegen ihn verschworen zu haben. Schließlich warf Tinnefeld in seinem Zorn sogar ein Bierglas nach seiner Frau. Aber nicht einmal das verschaffte ihm Luft, sondern ließ den Streit nur noch weiter eskalieren. Helene hatte sich lange genug allein mit ihrem Sohn durchgeschlagen und sich stets gegen alle Widrigkeiten zur Wehr gesetzt. Daher bot sie auch diesmal dem angetrunkenen Tinnefeld die Stirn, flüchtete aber schließlich unter lautem Schimpfen in die Küche.
„Franz, Franz, was hast du getan?“
In seiner blinden Wut zog es Tinnefeld dann in die Schlafstube. Dort nahm den Revolver an sich und stellte seiner Frau bis in die Küche nach. Plötzlich fielen zwei Schüsse. Getroffen sank Helene sofort zusammen. Erst war es still. Tinnefeld stand mit der Waffe in der Hand in der Küche und konnte nicht glauben, was er getan hatte. Aber dann wich die Stille aufgeschrecktem Kindergeschrei. Als ersten kamen Gäste aus der Gaststube in die Küche gelaufen und sahen das Malheur. Kurze Zeit später kamen die Nachbarn herbeigeeilt, denen der Streit natürlich nicht verborgen geblieben war. Der Nachbar Pottmeyer war als erstes vor Ort, sah den Tinnefeld und rief: „Franz, Franz, was hast du getan?“ Der sofort herbeigeholte Arzt konnte Helena nicht mehr helfen. Etwa eine halbe Stunde nach der Tat verstarb die Frau unter seinen Händen.
Es dauerte nicht lange, bis dass die Kunde von der Tragödie sich in der ganzen Stadt verbreitete. Außer Pottmeyer war auch Tinnefelds Freund Ellering rasch zugegen. Tinnefeld gebar sich nach der Tat völlig verwirrt und paralysiert. Nachdem er erst einmal ein Glas Bier hinuntergestürzt hatte, hätte er die Waffe beinahe gegen sich selbst gerichtet, wenn Ellering nicht eingeschritten wäre. Als dann die Polizei eintraf nahm diese Tinnefeld unter lautem Weinen und Zetern in Gewahrsam und führte ihn ab, vorbei an seinem Haus. Vor dem Haus hatte sich inzwischen eine große Menschenmenge angesammelt, die ihren Ohren und Augen nicht glauben konnten. Unter ihnen dürften sich auch etliche Kameraden der 39er befunden haben, deren Festessen damit hinfällig war.
Die Justiz fällt ein mildes Urteil
Am 7. Dezember fand im Bocholter Leichenschauhaus eine gerichtliche Obduktion statt. Dabei stellte sich heraus, dass Helena von beiden Schüssen getroffen wurde, wovon einer die Halsschlagader durchtrennte und ein anderer in die Brust eindrang. Am 15.01.1892 mußte sich Tinnefeld vor dem Schwurgericht in Münster verantworten. In diesem Prozess präsentierte sich Tinnefeld emotionslos und gleichgültig. An die Einzelheiten seiner Tat konnte er sich nicht erinnern. Nach Anhörung der zahlreichen Zeugen konnte in der Verhandlung jedoch der Tathergang weitgehend rekonstruiert werden. Tinnefelds Verteidiger, der Bocholter Justizrat Kayser, plädierte für die Freisprechung, weil Tinnefeld nach seiner Darstellung im Augenblick der Tat unzurechnungsfähig gewesen sei. Die Geschworenen erkannten jedoch auf vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge. Der Antrag der Staatsanwaltschaft lautete auf 5 Jahre Gefängnis. Dem entsprach schließlich auch das Urteil des Gerichtes.

Die gesamten Liegenschaften des Tinnefeld wurden im Februar 1892 meistbietend veräußert. In späteren Jahren betrieb die Bäckerei Imping an dieser Stelle ihr Geschäft. Tinnefeld trat seine Freiheitsstrafe vermutlich in Paderborn an. Dort starb er am 13.02.1896 im Landeshospital, vermutlich ohne vorher seine Freiheit wiedererlangt zu haben. Helenas erster Sohn Heinrich heiratete am 07.04.1894 und verdingte sich als Tagelöhner und später als Arbeiter in einer Spinnerei. Er wohnte zunächst in der Langenbergstr. 12 und später in der Schwanenstraße in Bocholt. Ihr zweiter Sohn Hermann wurde Buchbindergeselle im Betrieb seines Vetters Theodor Tinnefeld in der Realschulstraße und starb ledig bereits am 24.02.1904 in Bocholt.
© H. Krasenbrink
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Quellen:
Westfälischer Merkur 71 (15/01/1892) 15
Hagener Zeitung 78 (10/12/1891) 289
Münsterischer Anzeiger 41 (16/01/1892) 14
Rhein und Ruhrzeitung 45 (24/02/1892) 46
Westfälische Post (11/12/1891) 290
Herforder Zeitung für Stadt und Land 9 (08/12/1891) 288
Essener Zeitung (07/12/1891) 339
Kirchenbuch St. Georg, Bocholt, KB027/Seite 440
Kirchenbuch St. Gudula, Rhede, KB014/Seite 52
Kirchenbuch St. Georg, Bocholt, KB024/Seite 254
Kirchenbuch St. Georg, Bocholt, KB025/Seite 67
Kirchenbuch St. Georg, Bocholt, KB024/Seite 5
Kirchenbuch St. Georg, Bocholt, KB029/Seite 144
Kirchenbuch St. Georg, Bocholt, KB022/Seite280
Kirchenbuch Liebfrauen, Bocholt, KB003/Seite 211
Kirchenbuch St. Georg, Bocholt, KB026/Seite 84
Kirchenbuch St. Vitus, Südlohn, KB017/Seite 14
Kirchenbuch St. Pankratius (Marktkirche), Paderborn, KB022-01-S/Seite 141
Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe, P 9 / 3 (Standesamt Stadt Bocholt), Nr. 117 Seite 109
Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe, P 9 / 3 (Standesamt Stadt Bocholt), Nr. 190 Seite 333
Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe, P 9 / 3 (Standesamt Stadt Bocholt), Nr. 203 Seite 120
Friedrich Reigers: Die Stadt Bocholt während des 19. Jahrhunderts, S. 233
Stadtarchiv Bocholt, Sämtliche Civil-Einwohner zu Bocholt 1840 – Neue Klucht
Adressbuch und Geschäfts-Anzeiger für Bocholt (1902)
Abbildungen:
Abbildung 1: KI-generierte Illustration
Abbildung 2: Rhein und Ruhrzeitung 45 (24/02/1892) 46
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